Im 30. Band der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes beschreibt das Bundesverfassungsgericht nicht nur für Rechtsstudenten anschaulich und detailiert den verfassungsrechtlichen Kunstbegriff.
Das Wesentliche der künstlerischen Bestätigung ist die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden. Alle künstlerische Tätigkeit ist ein Ineinander von bewußten und unbewußten Vorgängen, die rational nicht aufzulösen sind. Beim künstlerischen Schaffen wirken Intuition, Phantasie und Kunstverstand zusammen; es ist primär nicht Mitteilung, sondern Ausdruck und zwar unmittelbarster Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers.
Das zeugt von einem besonders weitem Kunstbegriff. So ist nach dieser Rechtsprechung nahezu alles Kunst, was der freien Interpretation zugänglich ist.
Neben der künstlerischen Betätigung (Werkbereich) ist zudem auch der sogenannte Wirkbereich geschützt, das ist die Darbietung und Verbreitung von Kunstwerken.
Die Kunstfreiheitsgarantie betrifft in gleicher Weise den „Werkbereich“ und den „Wirkbereich“ des künstlerischen Schaffens. Beide Bereiche bilden eine unlösbare Einheit. Nicht nur die künstlerische Betätigung (Werkbereich), sondern darüber hinaus auch die Darbietung und Verbreitung des Kunstwerks sind sachnotwendig für die Begegnung mit dem Werk als eines ebenfalls kunstspezifischen Vorganges; dieser „Wirkbereich“, in dem der Öffentlichkeit Zugang zu dem Kunstwerk verschafft wird, ist der Boden, auf dem die Freiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 GG vor allem erwachsen ist. Allein schon der Rückblick auf das nationalsozialistische Regime und seine Kunstpolitik zeigt, daß die Gewährleistung der individuellen Rechte des Künstlers nicht ausreicht, die Freiheit der Kunst zu sichern. Ohne eine Erstreckung des personalen Geltungsbereichs der Kunstfreiheitsgarantie auf den Wirkbereich des Kunstwerks würde das Grundrecht weitgehend leerlaufen.
Begründen läßt sich diese Weite mit den Erfahrungen im Nationalsozialismus, insbesondere der Stigmatisierung von politisch unerwünschten Werken mit dem Begriff der „entarteten Kunst“.
Sinn und Aufgabe des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG ist es vor allem, die auf der Eigengesetzlichkeit der Kunst beruhenden, von ästhetischen Rücksichten bestimmten Prozesse, Verhaltensweisen und Entscheidungen von jeglicher Ingerenz öffentlicher Gewalt freizuhalten. Die Art und Weise, in der der Künstler der Wirklichkeit begegnet und die Vorgänge gestaltet, die er in dieser Begegnung erfährt, darf ihm nicht vorgeschrieben werden, wenn der künstlerische Schaffensprozeß sich frei soll entwickeln können. Über die „Richtigkeit“ seiner Haltung gegenüber der Wirklichkeit kann nur der Künstler selbst entscheiden. Insoweit bedeutet die Kunstfreiheitsgarantie das Verbot, auf Methoden, Inhalte und Tendenzen der künstlerischen Tätigkeit einzuwirken, insbesondere den künstlerischen Gestaltungsraum einzuengen, oder allgemein verbindliche Regeln für diesen Schaffensprozeß vorzuschreiben.
Weiter heißt es:
Die Kunst ist in ihrer Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG vorbehaltlos gewährleistet. Versuche, die Kunstfreiheitsgarantie durch wertende Einengung des Kunstbegriffes, durch erweiternde Auslegung oder Analogie aufgrund der Schrankenregelung anderer Verfassungsbestimmungen einzuschränken, müssen angesichts der klaren Vorschrift des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG erfolglos bleiben.
Aus der Ratio und diesem Hintergrund erklärt es sich auch, dass die Schrankenvorbehalte (also die mögliche Einschränkung der Kunstfreiheit durch Gesetze), welche sich in Absatz 2 des Art. 5 GG vorfinden.
Unanwendbar ist insbesondere, wie auch der Bundesgerichtshof mit Recht annimmt, Art. 5 Abs. 2 GG, der die Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 GG beschränkt. Die systematische Trennung der Gewährleistungsbereiche in Art. 5 GG weist den Abs. 3 dieser Bestimmung gegenüber Abs. 1 als lex specialis aus und verbietet es deshalb, die Schranken des Abs. 2 auch auf die in Abs. 3 genannten Bereiche anzuwenden. Ebensowenig wäre es angängig, aus dem Zusammenhang eines Werkes der erzählenden Kunst einzelne Teile herauszulösen und sie als Meinungsäußerungen im Sinne des Art. 5 Abs. 1 GG anzusehen, auf die dann die Schranken des Abs. 2 Anwendung fänden. Auch die Entstehungsgeschichte des Art. 5 Abs. 3 GG bietet keinen Anhalt für die Annahme, daß der Verfassunggeber die Kunstfreiheit als Unterfall der Meinungsäußerungsfreiheit habe betrachten wollen.
Auch Art. 2 Abs. 1 GG, welcher das Allgemeine Persönlichkeitsrecht verfassungsrechtlich in der objektiven Wertordnung des Grundgesetzes normiert, kann nicht herangezogen werden, um das Grundrecht der Kunstfreiheit einzuschränken:
Abzulehnen ist auch die Meinung, daß die Freiheit der Kunst gemäß Art. 2 Abs. 1 Halbsatz 2 GG durch die Rechte anderer, durch die verfassungsmäßige Ordnung und durch das Sittengesetz beschränkt sei. Diese Ansicht ist unvereinbar mit dem vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung anerkannten Verhältnis der Subsidiarität des Art. 2 Abs. 1 GG zur Spezialität der Einzelfreiheitsrechte (vgl. u. a. BVerfGE 6, 32 [36 ff.]; 9, 63 [73]; 9, 73 [77]; 9, 338 [343]; 10, 55 [58]; 10, 185 [199]; 11, 234 [238]; 21, 227 [234]; 23, 50 [55 f.]), das eine Erstreckung des Gemeinschaftsvorbehalts des Art. 2 Abs. 1 Halbsatz 2 auf die durch besondere Grundrechte geschützten Lebensbereiche nicht zuläßt. Aus den gleichen Erwägungen verbietet sich, Art. 2 Abs. 1 GG als Auslegungsregel zur Interpretation des Sinngehalts von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG heranzuziehen. Diese Schrankenregelung ist auch nicht auf den „Wirkbereich“ der Kunst anzuwenden.
Seine Schranken findet die Kunstfreiheit dennoch durch die sogenannten verfassungsimmanenten Schranken, namentlich der unantastbaren Menschenwürde, welche durch die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG „unantastbar“ im Grundgesetz verankert ist. Doch auch hier ist Vorsicht geboten. Diese Schranke ist restriktiv zu verstehen:
Dennoch kann die Kunstfreiheitsgarantie mit dem ebenfalls verfassungsrechtlich geschützten Persönlichkeitsbereich in Konflikt geraten, weil ein Kunstwerk auch auf der sozialen Ebene Wirkungen entfalten kann.
Daß im Zugriff des Künstlers auf Persönlichkeits- und Lebensdaten von Menschen seiner Umwelt der soziale Wert- und Achtungsanspruch des Dargestellten betroffen sein kann, ist darin begründet, daß ein solches Kunstwerk nicht nur als ästhetische Realität wirkt, sondern daneben ein Dasein in den Realien hat, die zwar in der Darstellung künstlerisch überhöht werden, damit aber ihre sozialbezogenen Wirkungen nicht verlieren. Diese Wirkungen auf der sozialen Ebene entfalten sich „neben“ dem eigenständigen Bereich der Kunst; gleichwohl müssen sie auch im Blick auf den Gewährleistungsbereich des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG gewürdigt werden, da die „reale“ und die „ästhetische“ Welt im Kunstwerk eine Einheit bilden.
Letztlich kommt es auch hier, wie so oft, auf die Umstände des Einzelfalles an. Nicht jedes kritische Portrait einer realen Person ist in der Lage sie derart in ihrer Menschenwürde zu verletzen, dass eine Einschränkung der Kunstfreiheit geboten ist. Im Einzelnen kommt es z.B. auch auf die Zeitspanne an, die zwiaschen der dargestellten und der jetzigen Zeit liegt. Ebenso kann die Zeit an sich (z.B. Nationalsozialismus), in der das Portrait „spielt“ maßgeblichen Einfluß auf die Abwägung im Einzelfall haben.
Die Entscheidung darüber, ob durch die Anlehnung der künstlerischen Darstellung an Persönlichkeitsdaten der realen Wirklichkeit ein der Veröffentlichung des Kunstwerks entgegenstehender schwerer Eingriff in den schutzwürdigen Persönlichkeitsbereich des Dargestellten zu befürchten ist, kann nur unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalles getroffen werden. Dabei ist zu beachten, ob und inwieweit das „Abbild“ gegenüber dem „Urbild“ durch die künstlerische Gestaltung des Stoffs und seine Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus des Kunstwerks so verselbständigt erscheint, daß das Individuelle, Persönlich-Intime zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der „Figur“ objektiviert ist. Wenn eine solche, das Kunstspezifische berücksichtigende Betrachtung jedoch ergibt, daß der Künstler ein „Porträt“ des „Urbildes“ gezeichnet hat oder gar zeichnen wollte, kommt es auf das Ausmaß der künstlerischen Verfremdung oder den Umfang und die Bedeutung der „Verfälschung“ für den Ruf des Betroffenen oder für sein Andenken an.
Im Ergebnis ist insbesondere das Mephisto-Urteil in seiner Gänze mitsamt des Sachverhaltes eine ausdrückliche Leseempfehlung für jeden Kunstver- und Kunsttreibenden. Wir hoffen, euch einen Zugang zum Lesen des Urteils geschaffen zu haben.